Das politische Imaginäre im Denken der Radikaldemokratie

Das Politische geht nicht im Symbolischen auf. Vielmehr zeugt es von einem Überschuss des Imaginären, das einer politischen Ordnung allererst ihre symbolische und materiale Gestalt verleiht. Soziale und politische Institutionen sind demnach immer auch von ihren imaginären Bedeutungen her beschreibbar. Ein so verstandenes, in gleicher Weise politisches wie ‚radikales Imaginäres’ (Castoriadis) bricht mit den klassischen Dichotomien von Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Vorstellung oder Faktum und Phantasma. Radikal ist das Imaginäre vor allem deshalb, da es im Sinne einer ‚vorbildlosen Schöpfung’ als wirklichkeitsgenerierend gedacht wird, politisch, weil ‚Nation’ oder ‚Volk’ nicht lediglich als eine Vorstellung in unseren Köpfen, sondern als ein sozio-historischer Akt vorbildloser Selbstinstitution der Gesellschaft durch die Gesellschaft zu verstehen sind. Das Imaginäre durchzieht damit alle Dimensionen von Politik.

Daraus folgt nun auch die Annahme, dass Politik nicht auf einem bilderlosen, an-ästhetischen oder von Rhetorik freien logos beruht. Der politische logos besitzt seinerseits vielmehr eine integrale Rhetorizität, Figuralität, Theatralität oder Metaphorizität. Entgegen einer, etwa im Liberalismus anzutreffenden, Blindheit gegenüber dieser Dimension des Politischen weiß die Radikaldemokratie um das eminent produktive Moment sowie die politische Virulenz des Imaginären. Doch im Unterschied zu totalitären Strömungen des politischen Denkens verhält sie sich zugleich gegenüber einer Ästhetisierung von Politik und Gemeinschaft kritisch. Der Faszination durch das ästhetisierte Leben wird ein Begriff des Ästhetischen entgegengehalten, der nach einer Politik der Bilder fragt, die dazu in der Lage ist, auch den Anteil der Anteilslosen einer Gesellschaft ins Erscheinen zu bringen. Sie schreibt sich eine Neuaufteilung des Sinnlichen (Rancière) ins Programm, durch welche die Grenzen des Sagbaren und Sichtbaren neu bemessen werden. Der Ästhetisierung der Lebenswelt entgegnet sie in anderer Hinsicht mit einem erhöhten Gespür nicht nur für die Gesellschaft des Spektakels (Debord) sondern auch für das jeder Vergesellschaftung innewohnende Spektakel der Gesellschaft (Nancy). Im Anschluss an die Ideologiekritik Althussers lässt sich so z.B. der zeitgenössischen Ideologie – die gerade im Glauben besteht, unsere Zeit sei eine ‚post-ideologische’ – kritisch begegnen. Das Imaginäre entspricht dann nicht einer illusionären Repräsentation oder einem falschen Bewusstsein gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern ist ein in sich immer auch ideologisches Moment aller Vergesellschaftung. Mit Laclau und Butler ließe sich darüber hinaus nach den unumgänglichen, sprachlich-rhetorisch verfassten Identifikationspraktiken fragen, die das Politische hegemonial formieren und durchkreuzen. Um der Materialität des Imaginären angemessen zu begegnen, können mit Balibar und Rancière zudem die je unterschiedlichen Formen und Figuren der Inkorporation des Politischen untersucht werden. Mit diesem Fokus grenzt sich die Erforschung des politischen Imaginären im Denken der Radikaldemokratie ebenfalls deutlich von aktuellen philosophischen, kultur- und medientheoretischen sowie literaturwissenschaftlichen Projekten ab, die im weitesten Sinne das Verhältnis von Ästhetik und Politik verhandeln.

Über eine kritische Beschreibung der imaginären Instituierung von Gesellschaft hinaus, kann die Brisanz des politischen Imaginären auch an den Grenzen politischer und gesellschaftlicher Repräsentation entfaltet werden. Von Bataille und Blanchot bis zu Foucault und Derrida unternimmt die politische Philosophie immer auch ein Denken des Undarstellbaren und A-Figuralen. Hinsichtlich des politischen Imaginären zeigt sich ein solches Denken dabei in besonderer Weise einer Semantik des Negativen, Unbestimmten und Unbestimmbaren verpflichtet. Hierin liegt auch seine Relevanz für politisch widerständige Praktiken gegenüber spezifischen Konfigurationen einer symbolischen Ordnung. Gegenhegemoniale Strategien, freimütige Wortergreifungen und andere Akte der Infragestellung imaginärer Institutionen setzen sich daher immer auch gegen eine Überdeterminierung des Imaginären ein. Die Radikaldemokratie, die sich als Theorie des Politischen in besonderer Weise auch der politischen Praxis und der sozialen Emanzipation verschreibt, bietet hierfür ein weitreichendes Reflexionspotential. Eine ihrer größten Herausforderung erkennt sie in der Differenzierung zwischen dem kritischen und ideologischen Gehalt imaginärer Institutionen. Denn wenn das Imaginäre selbst an jede Vergesellschaftung gebunden ist, bleibt zu fragen, inwieweit es angesichts seiner politisch-ökonomischen Funktion innerhalb kapitalistischer Vergesellschaftung, noch eine Quelle für widerständige Praktiken zu bieten vermag. Das Überschusspotential des Imaginären erweist sich heute nicht zuletzt als integraler Bestandteil eines weitgehend bildervermittelten Kapitalismus.

Um auch in einer historischen Perspektive das Denken der Radikaldemokratie in seiner Spezifik, gerade auch gegenüber der liberaldemokratischen politischen Philosophie, herauszustellen, empfiehlt es sich, das politische Imaginäre nicht als ein nur hinzukommendes Moment, sondern als einen Kernbegriff des Politischen zu begreifen. Das politische Imaginäre hat in der Moderne an drei historischen Einschnittstellen eine je spezifische Prägung und Neuausrichtung erfahren, die es auch für die systematische Betrachtung zu bedenken gilt: Als erstes wäre hier das Ereignis der Französischen Revolution zu nennen, das auch als ein Innewerden eines notwendig zu mobilisierenden Imaginären für die Einsetzung einer kopflos gewordenen Gesellschaft verstanden werden kann. Der NameAuschwitz“ bildet den zweiten Einsatzpunkt des modernen Imaginären. Sämtliche (politischen, ethischen, ästhetischen) Fragen nach dem Undarstellbaren nehmen von hier ihren (traumatischen) Ausgang. Zuletzt stellt das Jahr 1989 eine Neuverortung des politischen Imaginären im Rahmen von digitaler Informationstechnologie, neoliberaler Globalisierung und dem mehrfach diagnostizierten Ende der großen Erzählungen dar. Die im zweifachen Sinne post-marxistische Ausrichtung der Radikaldemokratie trägt dabei nicht nur dem Zivilisationsbruch von Auschwitz und der Frage der Undarstellbarkeit für das Politische Rechnung, sondern rollt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks noch einmal die Sprache der Ideologiekritik aus, um sowohl einem bilderlosen Neoliberalismus als auch einer globalisierten Bilderflut kritisch zu begegnen.

(Felix Trautmann / Marc Ziegler)


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