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Worum es geht…

Bereits am Ursprung der neuzeitlichen Staatsphilosophie wird die Frage aufgeworfen, ob sich Demokratie nur aus ihrem eigenen Vollzug heraus zu legitimieren vermag oder auf naturrechtlichen bzw. anthropologischen Fundamenten ruhen muss, die selbst wiederum nicht zum Gegenstand demokratischer Meinungsbildung gemacht werden können. Offen bleibt, ob die Demokratie selbst nur eine Staatsform unter anderen oder nicht vielmehr gerade jener Fragemodus ist, in welchem die Ungewissheit der Fundierung von Politik zur Erscheinung kommen kann. Die Demokratie wäre dann in einem wesentlichen Sinne grundlos und könnte nur durch ihren praktischen Vollzug legitimiert werden.

Dieser für jede Demokratietheorie zentralen Frage trägt heute in besonderer Weise die Konzeption einer radikalen Demokratie Rechnung. Im Mittelpunkt der sich selbst als ‚radikal’ apostrophierenden demokratietheoretischen Ansätze steht der Gedanke, dass Demokratien aufgrund ihrer konstitutiven Grundlosigkeit antagonistisch bzw. agonal verfasst sind. Demokratische Auseinandersetzungen über die angemessene Einrichtung des Gemeinwesens lassen sich aus dieser Perspektive nicht in transzendentalen Rechts- oder Vernunftprinzipien verankern. Der demokratische Konflikt um die begriffliche und reale Gestalt der Demokratie bleibt insofern unauflösbar. Daraus ergibt sich das Postulat einer ‚leeren Mitte’ (Claude Lefort) der Macht wie der Gesellschaft: Da moderne Gesellschaften wesentlich überdeterminiert sind, kann kein politischer Akteur im Namen der Gesellschaft sprechen; das Volk, das traditionell als Sitz einer positiv beschreibbaren Souveränität begriffen wird, charakterisiert sich für radikaldemokratische Ansätze durch eine Abwesenheit, einen konstitutiven Mangel, der die Gesellschaft daran hindert, sich eine abgeschlossene Gestalt zu geben. Wenn die Demokratie sich niemals durch einen Rekurs auf universelle Prinzipien absichern kann, bleibt sie stets ‚im Kommen’ (Jacques Derrida). In dieser Konsequenz könnte als wesentliches Anliegen des Diskurses der radikalen Demokratie eine Verteidigung ‚des Politischen’ (le politique), verstanden als Kraft der kollektiven Selbstinstituierung einer Gesellschaft, gegenüber ‚der Politik’ (la politique), verstanden als Ensemble von Institutionen, die ein  Gemeinwesen verwalten, begriffen werden. Praktisch drückt sich dies etwa in der Forderung nach der Demokratisierung von Bürokratien, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft sowie nach der Erweiterung von Partizipationsmöglichkeiten aus. Die radikale Demokratie erschöpft sich damit nicht in den Forderungen der, wenn auch begrifflich verwandten, direkten oder Basis-Demokratie. Vielmehr lehnt sie das basisdemokratische Ressentiment gegenüber politischen und rechtlichen Institutionen als seinerseits undemokratisch ab.

Wenn relevante politische Entscheidungen, wie das Beispiel der Europäischen Union zeigt, immer weniger von demokratisch legitimierten Institutionen, sondern von überstaatlichen Bürokratien, Verhandlungsgremien und Netzwerken getroffen werden; wenn gleichzeitig der Staat auch intern Entscheidungskompetenzen an andere gesellschaftliche Teilsysteme wie Wirtschaft und Recht abtritt, dann entspricht dies, so die Diagnose eines radikaldemokratischen Denkens, einer tendenziellen Entpolitisierung. Unsere Epoche könnte insofern insgesamt als eine postpolitische oder nachdemokratische gekennzeichnet werden. Doch deuten sich auch Gegentendenzen an: Zahlreiche politische Akteure drängen etwa vermehrt auf eine Demokratisierung der neuen transnationalen Entscheidungsstrukturen. Dabei bleibt jedoch unklar, welche Konsequenzen eine solche Demokratisierung auch für die politische Ordnung der Nationalstaaten hat. Spätestens der europäische Einigungsprozess  zeigt, dass es in Europa mehr als nur eine historisch gewachsene Demokratie gibt. Idee und Gestalt einer europäischen Demokratie bleiben umstritten, umso mehr, wenn Gesellschaften mit signifikant nicht-westlichen Traditionen hinzukommen. Hierbei vermag keine Instanz mehr zwischen den verschiedenen Demokratiekonzepten zu vermitteln, da ein Rekurs auf interkulturell verbindliche Wertvorstellungen nicht mehr möglich scheint. Eine der Folgen davon ist ein seit langem beklagtes Legitimationsvakuum in politischer wie ethischer Hinsicht. Unter Bedingungen globaler Interdependenz können nationalstaatliche formierte Demokratien weniger denn je kulturelle Homogenität beanspruchen.

Auf diese Situation reagiert das politische Denken der radikalen Demokratie. Sein entschieden politischer wie philosophischer Beitrag richtet sich auf die Formulierung einer Demokratietheorie, die der gegenwärtigen Legitimationskrise westlicher Demokratien Rechnung trägt. In den letzten zwanzig Jahren hat sich der Diskurs der radikalen Demokratie als eine der elaboriertesten linken Theorieströmungen etabliert und ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum rezipiert worden. In verschiedener Weise wurde versucht, dieses Denken als poststrukturalistisch, post-marxistisch, dekonstruktivistisch, anti-essentialistisch oder post-fundationalistisch zu charakterisieren. Die Schriften von AutorInnen wie Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Étienne Balibar, Jacques Rancière, Jacques Derrida, Judith Butler, Marcel Gauchet, Alain Brossat, Giorgio Agamben, Antonio Negri, Pierre Rosanvallon und Jean-Luc Nancy können ihm zugerechnet werden. Aber auch demokratiekritische Positionen wie die von Alain Badiou und Slavoj Žižek berühren sich mit dem radikaldemokratischen Denken im engeren Sinne.

Die Veranstaltungen und Publikationen des Arbeitskreises ‚radikale Demokratie’ haben sich bislang der Aufarbeitung und kritischen Diskussion der historischen und systematischen Voraussetzungen der Konzepte radikaler Demokratie gewidmet. Diskursgeschichtlich wurde dabei vor allem nachvollzogen, inwieweit die radikaldemokratischen AutorInnen insbesondere die zeichen- und sprachtheoretischen Positionen der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts für das politische Denken fruchtbar gemacht haben. In dieser Aneignung und in der allgemeinen Problematisierung von Ursprungs- oder Begründungstheorien zeigt sich die ‚Familienähnlichkeit’ der radikaldemokratischen Theorien. Weiterhin wurde die Frage, ob Demokratie substantiell begründungsbedürftig oder konstitutiv grundlos ist, auch an die Klassiker der neuzeitlichen Staatsphilosophie zurückadressiert. Die einschlägigen Schriften etwa von Machiavelli, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau, Tocqueville, Kant, Hegel und Marx wurden daraufhin befragt ob und inwiefern sie bereits die Grundparadoxie demokratischer Legitimation auf ähnliche Weise interpretieren.

Über die Einholung der theoretischen Grundlagen sowie den Vergleich mit den Klassikern hinaus stellt sich der Arbeitskreis in Zukunft die Aufgabe, die Ansätze der verschiedenen AutorInnen der radikalen Demokratie auch hinsichtlich weiterer Fragestellungen zu diskutieren. Nicht nur aktuelle gesellschaftliche und politische Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfordern neue demokratietheoretische Reflexionen. Zudem lassen sich die Spezifik und der kritische Gehalt der radikalen Demokratie in besonderer Weise einholen, indem diese mit konkurrierenden Strömungen und Positionen der zeitgenössischen politischen Philosophie konfrontiert werden.

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